HOT JAZZ, GYPSY JAZZ, "ZIGEUNERSWING"?

When Jazz became hot: DJANGO REINHARDT

Stilkone und Vater des Gypsy Swing ist der aus Liberchies/Belgien stammende Sinto Django Reinhardt. Sein Werk prägt, seit bald einem Jahrhundert, eine Stilrichtung, die als eigenständige, europäische Form des „Hot Jazz“ bekannt wurde. Kernelement dieser Stilistik ist Django Reinhardts Idee, ein Jazz-Ensemble allein mit Saiten-Instrumenten zu besetzen  (siehe Video des Quintette of the Hot Club de France mit Solo-Gitarre, Geige, zwei Rhythmusgitarren und Kontrabass).  Aber auch seine Art Themen (Melodien) zu interpretieren ist aussergewöhnlich, genauso wie seine Improvisationen: Technisch brillant, mit vielen bis dato nicht gekannten oder nicht dafür genutzten Spielweisen,  voller Spielwitz und Rafinesse. Auch seine Kompositionen sind melodisch interessant,  oft sehr pointiert arrangiert (z.B. „Nuages“, „Douce Ambiance“) und immer einprägsam – der „Minor Swing“ hat es, wenn auch in für geübte Ohren schwieriger Version, als Soundtrack bis nach Hollywood geschafft. 

Der Sound des „Quintette of the Hot Club de France“ von Mitte bis Ende der 1930er ist Django Reinhardts bekanntestes und einprägsamstes Markenzeichen, ab den 1940er Jahren ist er bis zu seinem Tod 1953 in immer neuen Besetzung auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen im Jazz. Die Rome-Sessions, aus denen viele brillante Aufnahmen hervorgingen, gelten als letzter Höhepunkt im Schaffen Djangos und zeigen 15 Jahre nach seinem Durchbruch einen gereiften Solisten, der musikalisch absolut auf der Höhe der Zeit ist. Am frühen Django Sound orientieren sich heute immer noch Stochelo Rosenberg, Fapy Lafertin und, seit kurzem, Duved Dunayevski

 

SWING MANOUCHE / "MUSIK DEUTSCHER ZIGEUNER"

Der Begriff „Musik deutscher Zigeuner“ ist (ähnlich wie die „Zigeunerromantik“ in der Klassik) ein technischer Term und wird nur im historischen Sinn verwendet.  

Nach Django Reinhardts Tod im Jahr 1953 wird es in der Öffentlichkeit zunächst sehr ruhig um den „Swing Manouche“. Die Musik entwickelt sich eher volksmusikalisch weiter, im Schoße der Sinti-Familien in Holland, Belgien, Frankreich und Deutschland (siehe Video „Hommage a Django“). Erst in den 1970er und 80er Jahren werden (in Deutschland) Schnuckenack Reinhardt, Hän’sche Weiss sowie Titi Winterstein, in Frankreich die Ferret Brüder, Dorado und Tchavolo Schmitt u.a. zu Pionieren eines neuen Genres, das auch in der Öffentlichkeit wieder an Bekanntheit gewinnt. Sie alle stehen für einen sehr melodiösen Gypsy Swing, oft mit gesungenen Texten auf Romanes, der Sprache der Sinti. Zu bekannten Stücken zählen „Hunn, O Pani Naschella“, „Swing 85“ oder der Lulu Swing von Lulu Reinhardt. Heute gilt der Belgier Tcha Limberger als einer der wichtigsten Konservatoren dieses Liedguts, Gismo Grafs Vater Joschi singt als einer von wenigen aktuellen dt. Künstlern traditionelle Sinti-Lieder. Eins der wichtigsten Alben ist „Ou Welto Risella“ von Fapy Lafertin und Bamboula Ferret

Interessant: Erst in dieser Phase, also im Nachhinein, erfährt die Musik Django Reinhardts die kulturelle und im weiteren musikalische Prägung, die heute mit dem (oft sehr vague benutzten) Ausdruck „Gypsy Swing/ Jazz“ bezeichnet wird. Im Werk Django Reinhardts und auch in der Rezeption zu Lebzeiten tauchen die Ausdrücke „Gypsy“, „Manouche“ usw. nur an sehr wenigen Stellen auf, erst nach Django werden sie zu wichtigen Chiffren für die Beschreibung dieses Musikstils.   

Neue Virtuosen

Aus diesem Milieu gehen auch die „Wunderkinder“ und „Nachfolger Djangos“ Bireli Lagrene (*1966) und Stochelo Rosenberg und später Jimmy Rosenberg (*1980) hervor. Deren Wege verlaufen zunächst sehr ähnlich: Auftritte in jüngsten Jahren vor großem Fernsehpublikum oder auf großen Bühnen (Bireli hier mit 15 in Montreux, Jimmy Rosenberg in der Carnegie Hall). Dem großen Hype in jungen Jahren folgt bei Bireli Lagrene jedoch eine Emanzipation vom Gypsy Swing, er verlässt Europa und avanciert in den USA zur genreübergreifend aktiven und weltweit anerkannten Gitarrengröße, mit großen Erfolgen auch im Fusion Jazz mit Jaco Pastorious oder im Duo mit Sylvain Luc . Jimmy Rosenbergs viel versprechende künstlerische Karriere gerät nach zahlreichen Eskapaden leider sehr in Stocken. Jimmy Rosenbergs Cousin Stochelo Rosenberg (*1968), der erst als Erwachsener seine Karriere startet, entwickelt sich im Laufe der Jahre in Europa zu dem Gypsy Swing Gitarristen schlechthin. Insbesondere das Live at the North Sea“ Konzert sowie das Album „Serestra“ des Rosenberg Trios werde zu Meilensteinen des Genres. 

 

GYPSY SWING - GYPSY JAZZ?

Die durch Bireli Lagrene und Jimmy (und auch Stochelo) Rosenberg angestoßene Renaissance des Gypsy Swing nimmt während der 90er Jahre allmählich Fahrt auf. Auch die ältere Garde erlebt neuen Aufschwung, Tchavolo Schmitt, Angelo Debarre, Dorado Schmitt werden zu Kultfiguren des Genres (vgl. den Film Les Fils du Vent).  Ein regelrechter Boom setzt jedoch erst ein mit Bireli Lagrenes Rückkehr aus den USA. Mit seinem  „Gypsy Project“ widmet er sich, als inzwischen weltweit anerkannter Jazz-Gitarrist, neu der Musik Django Reinhardts.  Nach der Jahrtausendwende avanciert er in Frankreich zum Superstar des Jazz und spielt regelmässig als Headliner auf großen Festivals. Seine Improvisationen  auch über das klassische Django Repertoire integrieren jetzt Bebop, Blues- und Fusion-Einflüsse. Dies öffnet das Genre für viele junge Spieler insbesondere aus Frankreich (z.B. Adrien Moignard, Rocky Gresset uvm.), die sich von Birelis ausgelebter Kreativität und Spielfreude inspirieren lassen.

Dank dieser Weiterentwicklung ist inzwischen häufiger die Rede vom Gypsy Jazz (oder Jazz Manouche), weil die Musik sowohl rhythmisch als auch solistisch vielfältiger und komplexer gespielt wird. Auch das Repertoire erweitert sich, in Richtung moderner Pop-Standards („Love me Tender“, „Isn’t she lovely“). Nicht nur die Solo Gitarre erfährt hierbei ein stilistisches Update: Auch was die Begleitung angeht, werden neue Rhythmen jenseits von Swing und Walzer immer weiter verbreitet. 

GYPSY SWING IN DEUTSCHLAND

Der Gypsy Swing Boom aus Frankreich erreicht Deutschland leider nicht in dem Maße. Auch wenn es an vielen Orten Deutschlands eine jeweils regional sehr aktive Szene gibt, die teils hervorragende Solisten hervorbringt (z.B. Wawau Adler, Traubeli Weiss), bleibt Gypsy Swing eher ein Randphänomen in der deutschen Jazzlandschaft. Der Österreicher Diknu Schneeberger hatte in jungen Jahren enormen Erfolg, Joscho Stephan ist national und international sicherlich der bekannteste Name und erfolgreichste deutsche Spieler, der viel Publikum für den Gypsy Swing gewonnen hat. Beide haben ihre größten Erfolge, wenn sie sich am traditionellen Gypsy Swing Repertoire orientieren (auch Gismo Graf ist in dieser Reihe zu nennen). Der Hamburger Giovanni Weiss/Django Deluxe ist am ehesten der moderneren, am Jazz orientierten Spielweise zuzuordnen und erzielte durch die Zusammenarbeit mit der NRD Bigband und einem Echo-Preis die prestigeträchtigsten Erfolge eines deutschen Gypsy Swing Gitarristen. Der Geiger Sandro Roy ist mit ihm zusammen der erfolgreichste Musiker mit Sinti-Wurzeln aus Deutschland, das Django Repertoire spielt aber für seine aktuellsten Alben kaum mehr eine Rolle. Eine wichtige Rolle für die Gypsy Swing Kultur spielen Festivals, wie z.B. das von Bernhard Gierstl/Hot Club News e.V. ins Leben gerufene „Django Reinhardt Memorial“-Festival in Augsburg, das Hildesheimer Festival von Ricardo Laubinger und viele kleinere Festivals wie u.a. die Gypsy Jazz Tage München. 

GEGENWART

Auf der einen Seite gibt es, wie oben schon erwähnt, die Pariser Szene, die mit Adrien Moignard, Rocky Gresset, Sebastien Giniaux uvm. eine lange Zeit wohl konkurrenzlose Gitarristenklasse hervorgebracht hat, die sich auf den Solisten und das Repertoire Django Reinhardts immer noch beruft, aber dieses immer freier zu interpretieren im Stande ist. Dies motiviert zahlreiche Gitarristen weltweit dazu, sich gitarristisch mit dem Gypsy Jazz auseinander zu setzen. Mit Antoine Boyer gibt es aktuell einen jungen Gitarristen, der ebenfalls im Gypsy Swing groß geworden ist, aber mit einer beispiellosen Virtuosität inzwischen in allen Genres zuhause ist. 

Künstler und Bands wie Les Doigts de l’homme, Gonzalo Bergara, das RP Quartett kombinieren Elemente des Gypsy Swing mit anderen Einflüssen aus Tango, Bebop, Klassik, Rock und Groove-Musik und schaffen so ganz neue Nischen innerhalb des Gypsy Jazz, mit meist komplexen Arrangements und vielen Eigenkompositionen.

GYPSY, GYPSY, GYPSY

Auf einem ganz anderen Zweig gibt es „Gypsy“ weiterhin als inhaltleeres Buzzword für die ewige bürgerliche Sehnsucht nach Wild- und Freiheit (die schon die Schlagerfolklore rund ums „Lustige Zigeunerleben“ oder den „schwarzen Zigeuner“ besingt). Schnurrbart und/oder exzentrische Aussendarstellung sorgen bei entsprechenden Bands für den „Touche Manouche“, der irgendwo im ästhetischen Niemandsland zwischen kultureller Aneignung, instrumenteller Mittelklasse, Lust auf Action, falsch verstandenem Innovationsbegriff und spät entdeckter bzw. eingestandener Erfolgsorientierung immer wieder neue Blüten treibt. Inspiriert durch muntere Wortspiele im Bandnamen oder Liedtitel werden Roma Folklore/Balkan Brass, Django-Gitarre und Beats zu einem party-tauglichem Gypsy-Mix vereint, zu dem man als Angehöriger der urbanen weissen Mittelschicht seit Disco Partizani weiss wie man herumzuhoppeln hat. Tiganizatia, tiganizatia!

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